Spuren auf Papier
- Publisher: Playing History & dive in
- Veröffentlichungsjahr: 2022
- Plattform: Browser
- Link: https://gedenkstaette-wehnen.de/spuren-auf-papier/
- Geeignet für: Ab Klasse 9 (empfohlen ab 15 Jahren)
- Fachbezug: Geschichte, Ethik, Deutsch
„Die Kranken und Schwachen zu schützen, ist die Würde der Gesunden.“
So lautet die Inschrift auf dem Mahnmal der Gedenkstätte Wehnen, die sich seit 2004 auf dem Klinikgelände der Karl-Jaspers-Klinik bei Oldenburg befindet. Zur Zeit des Nationalsozialismus und bis 1947 starben in der damaligen „Heil- und Pflegeanstalt Wehnen“ mehr als 1.500 Menschen an den Folgen von Aushungerung, Krankheit und Vernachlässigung. Die Anstalt wurde zu einem Vorreiter der sogenannten „Euthanasie“ – der systematischen Ermordung kranker und behinderter Menschen durch die Nationalsozialist*innen.
Spuren auf Papier nähert sich diesem herausfordernden Thema auf behutsame Weise. Spieler*innen folgen mithilfe von Tagebucheinträgen der fiktiven Geschichte von Josephine und ihrer Schwester Anna, die mit der Diagnose einer manischen Depression eingeliefert wird. Annas und Josephines Biographien stehen exemplarisch für die tatsächlichen Schicksale vieler Patient*innen und ihrer Angehörigen. Eingebettet in ihre Geschichte werden zahlreiche Fakten über die Geschichte der Anstalt und die barbarische Gesundheitspolitik der Nationalsozialist*innen vermittelt. So berichtet Josephine in ihrem Tagebuch mitunter davon, dass Anna kurz nach ihrer Einweisung als sogenannte „Erbkranke“ genauso wie die meisten Patient*innen zwangssterilisiert wird. Zudem werden mit Beginn des Kriegs die Speiserationen reduziert. Wer nicht mehr arbeiten kann, bekommt die berüchtigte „Wassersuppe“. Schließlich wird Anna krank – und stirbt, wie viele andere Patient*innen, an den Folgen.
Josephine liest den Spieler*innen die Einträge ihres Tagebuchs vor und versieht sie mit symbolreichen Zeichnungen, die zugleich als kleine Rätsel dienen, die die Spieler*innen lösen. An die Buchseiten werden Dokumente geheftet, die abseits der persönlich gefärbten Schilderungen Informationen zum grausamen Anstaltsalltag liefern. Sie sind Originalen in Krankenakten detailliert nachempfunden, sodass sie einen vielsagenden Einblick in die Lebensbedingungen vor Ort liefern – und ihre Konsequenzen für die Opfer aufzeigen.
Spuren auf Papier eignet sich aufgrund seiner behutsamen Vermittlung des Themas der Krankenmorde im Nationalsozialismus besonders für den Einsatz im Geschichts-, Ethik- und Deutschunterricht ab Klasse 9. Ein Besuch der Gedenkstätte Wehnen bei Oldenburg lässt sich damit sinnvoll vor- und nachbereiten. Doch auch ohne angedachten Besuch liefert das Serious Game zahlreiche lohnenswerte Ansätze für den Unterricht.
Die Tagebucheinträge von Annas Schwester Josephine erlauben einen schüler*innengerecht aufbereiteten Einblick in die Geschichte der „Heil- und Pflegeanstalt“ während der NS-Zeit. Für den Geschichtsunterricht liegt eine große Stärke des Spiels in der sprachlichen Sensibilität der Originalquellen nachempfundenen Einträge, die es Spieler*innen erlauben, eine Nähe zum Schicksal der Protagonistinnen aufzubauen – ohne zu romantisieren. Zugleich liefert das Spiel im Rahmen des historisierenden Settings eine Fülle an historischen Fakten: Zahlreiche Dokumente im Tagebuch vermitteln Informationen, die zum Ausbau vernetzten historischen Wissens anregen. Dabei fordern sie auch zur Reflexion der Grausamkeit auf, die den Opfern angetan wurde. So wird beispielsweise anhand einer Tabelle verdeutlicht, dass die Absenkung des Verpflegungssatzes mit dem Prozentsatz der jährlich Verstorbenen korrespondiert – im Jahr 1945 lag dieser bei über 30 Prozent.
Weitere Informationen werden auf der Webseite in einem kostenlosen Handbuch zur Verfügung gestellt. Dessen Inhalte können als quellengestützte, schüler*innengerecht formulierte Sachtexte im Geschichtsunterricht gemeinsam erschlossen werden. Zudem kann auf der Webseite eine ebenfalls kostenlose Arbeitsblattsammlung heruntergeladen werden, die sich auf die Inhalte des Spiels bezieht. Die Sachtexte liefern beispielsweise Informationen über die Themen Zwangssterilisation oder die sogenannte „Aktion T4“, die zur Ermordung von über 70.000 Menschen mit Behinderung zwischen 1940 und 1941 führte. Inhaltlich ergänzen lässt sich die Auseinandersetzung im Unterricht zum Beispiel mit zusätzlich einzubeziehenden (Video-)Interviews von Hinterbliebenen und Zeitzeug*innen.
Neben der Vermittlung historischer Sachkompetenz kann auch die Verantwortung reflektiert werden, die aus dem NS-Unrecht für uns heute erwächst. So können im Geschichts- aber auch im Ethikunterricht die erinnerungskulturelle Arbeit der Gedenkstätten, ihre Effektivität und ihr Kampf um Anerkennung – sowie allgemein erinnerungskulturelle Inhalte als Teil der heutigen Geschichtskultur – besprochen werden. Im Fall der Anstalt Wehnen galt viele Jahrzehnte lang die Überzeugung, dass sie kaum an den Krankenmorden beteiligt gewesen sei. Erst im Jahr 2001 wurde auf beharrliches Wirken Ehrenamtlicher hin ein Mahnmal errichtet. Mit den Schüler*innen kann hieran mitunter überlegt werden: Wieso wurde die Geschichte der Anstalt so lange nicht aufgearbeitet? Welche Form des Gedenkens ist der Trauer der Angehörigen und Hinterbliebenen angemessen – und hilft jüngeren Menschen dabei, die Geschehnisse einzuordnen?
Im Ethikunterricht lässt sich auch der historische und aktuelle gesellschaftliche Umgang mit Erkrankungen und Behinderungen diskutieren. So blendet das Spiel zum Abschluss mehrere aktuelle Zeitungsschlagzeilen ein, die auf wachsende Zustimmungswerte für Rechtspopulist*innen und gegenwärtige behindertenfeindliche Haltungen hinweisen. Daran können Fragen der Inklusion erörtert werden, die sich in einem weiteren Schritt auch auf die eigene Lebenswelt übertragen lassen: Was bedeutet echte Teilhabe – zum Beispiel in der Schule oder in der Arbeitswelt? Wie schaffen wir ein Umfeld, das für alle da ist?
Im Deutschunterricht kann Spuren auf Papier sowohl als Ganzschrift als auch als Ergänzung zu einer thematisch passenden Lektüre eingesetzt werden, die sich mit den Opfern des Nationalsozialismus befasst. Das durch bekannte Schullektüren – wie beispielsweise Anne Franks Tagebuch oder Judith Kerrs “Als Hitler das Rosa Kaninchen stahl” – bislang eher selten behandelte Thema der NS-Krankenmorde kann somit behutsam gemeinsam reflektiert werden. In der Auseinandersetzung mit dem Schicksal Annas rücken die Entwicklung von Empathie und Fremdverstehen in den Vordergrund. Auch das Symbolverstehen lässt sich fördern, indem die Zeichnungen Josephines im Zusammenhang mit ihren Tagebucheinträgen gedeutet werden. Zugleich kann anhand der Texte aus dem Online-Handbuch und der nachempfundenen Dokumente auch die Arbeit mit Sachtexten geübt werden, indem Tabellen und Akteneinträge ausgewertet werden. Zudem können Kompetenzen im Zusammenhang mit Sprachbewusstheit gefördert werden, indem die vermeintlich sachlich formulierten Dokumente auf ideologischen NS-Sprachgebrauch hin untersucht werden – zum Beispiel mit Blick auf die rassistisch geprägte und meist unzutreffende Bezeichnung von Patient*innen als „erbkrank“.
Spuren auf Papier ist kostenlos auf der Webseite der Gedenkstätte Wehnen abrufbar und kann auf Deutsch und Englisch innerhalb einer Doppelstunde gespielt werden. Es ist Teil des Projekts „Serious Game der Gedenkstätte Wehnen“ und in Zusammenarbeit mit einer Historikerin entstanden.