Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm
- Publisher: Paintbucket Games
- Veröffentlichungsjahr: 2024
- Plattform: Android, iOS
- Altersfreigabe: Keine (empfohlen ab 12 Jahren)
- Geeignet für: Ab Klasse 7
- Fachbezug: Geschichte
Wie kann „Erinnern“ erspielt werden?
Diese Frage stellt das Serious Game Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm und liefert mit dem Spiel eine gelungene Antwort. Mitten im Hamburg der späten 1970er-Jahre können die Spielenden zwischen fünf verschiedenen Rollen von Schüler*innen der Schule Bullenhuser Damm wählen. Jede Figur ermöglicht einen anderen Blick auf die damaligen Ereignisse in der Schule, in deren Kellerräumen 1945 zwanzig jüdische Kinder und mindestens 28 Erwachsene durch die SS ermordet wurden, nachdem die Nationalsozialisten sie zuvor im KZ-Neuengamme für medizinische Experimente missbraucht hatten.
Wie in einem Kriminalspiel gewinnen die Spielenden durch Gespräche, Recherchen und Begegnungen auf individuellen Pfaden Erkenntnisse darüber, was an ihrer Schule zur Zeit des Nationalsozialismus passiert ist. Jede Figur eröffnet dabei einen anderen Zugang zu geschichtlichen Ereignissen und beleuchtet andere Perspektiven des Erinnerns.
Kati entdeckt über ihre polnische Familiengeschichte, was die Stadt Radom mit dem Bullenhuser Damm verbindet.- Karsten, ein rebellischer Punk, stößt auf das Schweigen und Verdrängen seines Umfelds. Um Antworten zu erhalten, tritt er in den Dialog mit einem ehemaligen Häftling.
- Van, adoptiert aus Vietnam, thematisiert Fluchterfahrungen, Rassismus und rechten Terror in den 1980ern und seine Verbindung zur Gedenkstätte.
- Betti, aus einer jüdischen Familie, beginnt über die Auswirkungen des Holocaust bis in die Gegenwart nachzudenken.
- Akin, Sohn einer türkischen Arbeiter*innenfamilie, entdeckt im Rahmen eines Praktikums das verdrängte Kapitel der NS-Medizinverbrechen.
Diese unterschiedlichen Perspektiven machen es den Spielenden möglich, die Geschichte der Gedenkstätte Bullenhuser Damm und den Umgang mit dem Gedenken an diese Ereignisse im Jahre 1945 in ihren emotionalen, politischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu erfahren.
Jede der fünf Geschichten hat eine Spielzeit von 20 bis 30 Minuten. Nach jedem erfolgreichen Durchlauf werden Videos freigeschaltet, die die wichtigsten geschichtlichen Erkenntnisse der Figuren festhalten und noch einmal abrufbar machen.
Auf diese Weise nähert sich das Spiel unterschiedlichen historischen Themenbereichen und regt zur Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur an – na, neugierig geworden, die Geschichte(n) zu erspielen?
Das kostenlose Serious Game Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm eignet sich aufgrund seiner multiperspektivischen Zugänge hervorragend für den Einsatz im Geschichtsunterricht zum Thema Nationalsozialismus und kann ab Klasse 7 eingesetzt werden.
Die größte Stärke des Spiels besteht darin, dass das Spiel nicht bei der bloßen Vermittlung historischer Fakten zur Zeit des Nationalsozialismus bleibt, sondern die Frage nach dem Umgang mit Geschichte in den Mittelpunkt rückt. Die Figuren stoßen auf Verdrängung, Schweigen oder politische Vereinnahmung von Erinnerung. Dies geschieht beispielsweise, wenn Karsten seinen Vater mit der NS-Vergangenheit seines Großvaters konfrontiert oder Van erkennt, wie umkämpft historisches Erinnern auch in der Gegenwart ist. In Bettis Familie wird spürbar, wie lange die Folgen des Holocaust nachwirken, ihre Großmutter hält noch immer einen gepackten Koffer bereit. Diese Szenen bieten im Unterricht Anknüpfungspunkte für Diskussionen über heutige Formen des Erinnerns, über Geschichtsvergessenheit, über die Verantwortung nachfolgender Generationen und sie machen deutlich, dass Erinnerung immer auch politisch ist. Anhand dieser Themenfelderwird insbesondere die historische Reflexionskompetenz gefördert. Nicht zuletzt macht das Spiel bewusst, dass die Erinnerung vor Ort beginnt: Die einzelnen Figuren stoßen durch Zufall auf die Geschichte der Kinder vom Bullenhuser Damm. Die Bedeutung der unscheinbaren Gedenktafel in ihrer Schule, an der sie täglich vorbeikommen, ist vorher nie in ihr Bewusstsein gedrungen. Das kann auch im Unterricht aufgegriffen werden, etwa durch die Frage: „An welchen Gedenkorten laufen wir täglich vorbei, ohne sie bewusst wahrzunehmen?“ So wird ein lokaler Bezug hergestellt, der dazu anregt, sich etwa mit der eigenen Stadt- oder Dorfgeschichte auseinanderzusetzen. Das größte Potenzial des Spiels liegt vielleicht daher darin, dass es den Übergang vom gespielten Erinnern zum gelebten Erinnern ermöglicht – und die Schüler*innen dazu ermutigt, selbst Verantwortung für eine aktive Erinnerungskultur zu übernehmen.
Ein weiteres didaktisches Potenzial liegt in der Möglichkeit, die Erschließung von Geschichtswissen über die NS-Zeit aus der Perspektive der jugendlichen Protagonist*innen mitzuerleben. Den Schüler*innen werden die Erinnerungen der Personen, die ihnen im Spiel begegnen, dabei visuell dargestellt, etwa wenn sie einen Einblick in die zerbombte Stadt Hamburg erhalten. Gleichzeitig müssen die Spielenden Fragen an die Zeitzeug*innen stellen, um herauszufinden, was in den Jahren des Nationalsozialismus passiert ist. Dies kann die Schüler*innen dazu animieren, selbst Fragen an historische Ereignisse zu stellen und Erinnerungen von Personen zu hinterfragen. Weiterhin können die Schüler*innen historische Kontexte recherchieren oder die Perspektiven der Figuren in Beziehung zueinander setzen. So bedienen sich die Figuren, die den Spielenden begegnen, unterschiedlicher Strategien, mit Erinnerungen und historischen Ereignissen umzugehen. Täter*innen, Mitläufer*innen oder Betroffene reagieren auf die Recherchen der Protagonisten ganz unterschiedlich und stehen dabei stellvertretend für die realen Erinnerungsdiskurse. Dadurch werden historische Fakten nicht rein faktenorientiert vermittelt, sondern auch emotional zugänglich und handlungsorientiert greifbar. Dies kann unterstützend mit Hilfe von Steckbriefen zu den Figuren in den einzelnen Geschichten geschehen, die als Vorlagen in einer kostenlosen Handreichung zum Spiel heruntergeladen werden können.
Hervorzuheben ist zudem, dass das Spiel auch eine Antwort auf die Herausforderungen einer postmigrantischen Erinnerungskultur entwirft. Figuren wie Van oder Akin zeigen, dass die NS-Geschichte auch dann relevant ist, wenn die eigene Familie nicht zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland lebte. Das Spiel eröffnet Identifikationsmöglichkeiten, ohne historische Fakten oder Perspektiven von Figuren zu vereinfachen, und verknüpft das Thema Erinnerung mit Fragen von Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Verantwortung in der Gegenwart. Sollte man beispielsweise nach all den Jahren endlich einen Schlussstrich ziehen dürfen? Warum könnte es auch heute noch wichtig sein, sich an die damaligen Verbrechen zu erinnern? Und haben die damaligen Ereignisse auch für mich und mein Umfeld eine Relevanz?
Das Spiel kann sowohl als Einstieg in eine Unterrichtsreihe zu den Verbrechen der Nationalsozialisten als auch als Vertiefung eingesetzt werden. Zudem kann den Schüler*innen wahlweise freigestellt werden, welche der unterschiedlichen Figuren sie spielen wollen, sodass anschließend im Plenum die gewonnenen Erkenntnisse verglichen werden können; alternativ können alle Lernenden dasselbe Kapitel spielen und anschließend gezielt ein Aspekt, z. B. die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus, gemeinsam bearbeiten. Auf der Webseite des Spiels stehen Lehrkräften eine Handreichung zum Spiel sowie zusätzliches Unterrichtsmaterial kostenlos zur Verfügung:

